Ernst Leitz I - Vom Handwerksbetrieb zum Großunternehmen

Arbeitsteilung nach dem Verrichtungsprinzip

Wer je ein Mikroskop in seinen Einzelteilen gesehen hat – von der feinmechanischen Präzision des Stativs bis zu den winzigen Linsen - gewinnt eine Vorstellung davon, was es im 19. Jahrhundert bedeutete, solche Geräte in Handarbeit einzeln und mühevoll herzustellen. Deshalb war es das erste Anliegen von Ernst Leitz, die in Neuchâtel gewonnenen Erfahrungen im eigenen Betrieb umzusetzen. Schon 1870 begann er mit der Arbeitsteilung nach dem Verrichtungsprinzip. Der einzelne Optiker fertigte nur noch den Anteil eines optischen Instrumentes, mit welchem er in kürzester Zeit die besten Ergebnisse erzielte. Es war ein wichtiger Schritt zur Serienfertigung.

Bereits in dieser Phase konnte Leitz hervorragende Qualität schneller und zu günstigeren Preisen liefen als die Konkurrenz.

1870 verließ das 1.000. Mikroskop die Werkstätte. Ernst Leitz gab seinen ersten achtseitigen Katalog heraus. Das Mikroskopsortiment umfasste bereits 7 verschiedene Typen.

Carl Reicherts Teilhaberschaft führt zu weiteren Rationaliserungen

1872 trat der aus Württemberg stammende Mechaniker Carl Reichert in die Leitz- Werkstätte ein und wurde deren Teilhaber. Reicherts Aufenthalt bei dem Mikroskophersteller Edmund Hartnack in Potsdam von 1874 bis 1875führte nach seiner Rückkehr zu einer Systematisierung und somit zu einer merklichen Straffung des Stativprogramms bei Leitz. Diese Rationalisierung führte zu einer weiteren Kostenersparnis, Verkürzung der Lieferzeiten und niedrigeren Preisen.

Zu den geschäftlichen fügten sich verwandtschaftliche Bande: Carl Reichert heiratete 1878 die jüngere Schwester von Anna Leitz, Jeannette Löhr.

Zweimal Umzug und Vergrößerung des Betriebs. Trennung von Reichert

Bereits 1870 waren die Räume der ehemaligen Kellnerwerkstätte an der Jäcksburg zu klein geworden. Nach 5 Jahren im Haus des Schmiedemeisters Grell am Wöllbacher Tor wurde der sich ausdehnende Betrieb 1880 aus der Enge der Altstadt an den Stadtrand, in die freiere Lage am Kalsmunttor, verlegt. In den Folgejahren entstanden Erweiterungs- und Neubauten, die das Stadtbild beträchtlich veränderten. Viele junge Leute, die bei Leitz eine Beschäftigung und gute Verdienstmöglichkeiten fanden, wurden dort sesshaft.

1875 erschien der erste ausführliche Katalog in der neuen Währung Mark. Alleine für drei Stative gab es bereits 16 verschiedene Mikroskopausstattungen. Im Verzeichnis für Nebenapparate waren 15 Zusatzartikel enthalten.

Bereits 1876 kam es zu einer einvernehmlichen Trennung zwischen Leitz und Reichert, vor allen Dingen weil Anna Leitz eine fortdauernde Teilhaberschaft ablehnte. Reichert gründete anschließend in Wien eine eigene Werkstatt zur Herstellung von Mikroskopen.

Erfolgreiches Marketing

Von Anbeginn an pflegte Ernst Leitz den persönlichen Kontakt mit den führenden Wissenschaftlern seiner Zeit. Das stets an den Wünschen seiner Kunden orientierte Lieferprogramm, seine Teilnahme an Naturforscher- und Ärztekongressen inklusive Vorführung seiner Instrumente, sein intensiver Austausch mit den Anwendern und seine äußerst schnelle Umsetzung von Anregungen in Neu- oder Umkonstruktionen sicherten ihm schnell das Vertrauen seiner sich mehr und mehr ausweitenden Kundschaft im In-und Ausland.

Anzeige E. Leitz, Wetzlar Mikroskope

In dieser Anzeige von 1906 wirbt das Unternehmen für Mikroskope und die erweiterte Produktpalette

Als verkaufsunterstützende Maßnahmen gab es hausinterne Lehrgänge für Mikrophotographie und Mikrotomie. Veröffentlichungen in Fachzeitschriften erhöhten den Bekanntheitsgrad von Leitz-Instrumenten.

Leitz war bei den Weltausstellungen in Antwerpen 1891, Brüssel, 1897, Paris 1900 und St. Louis (USA) 1904 vertreten und erhielt hohe Auszeichnungen.

Bereits 1909 gab es Leitz-Niederlassungen in Berlin und Frankfurt, ferner in New York, Chicago, London und Sankt Petersburg. Leitz-Vertretungen waren in Breslau und München, in allen skandinavischen Ländern, ferner in Holland, Belgien, Frankreich, Österreich, Ungarn, Italien, in der Schweiz und in Japan.

Maschinen erleichtern den Produktionsfluss, verbessern die Arbeitsbedingungen

Ab 1883 entlastete eine zentrale Dampfmaschine, ab 1894 eine Dampfturbine die manuelle Arbeit. Sie ermöglichten den Einsatz größerer Werkzeuge, ferner konnte ein Optiker gleichzeitig mehrere Spindeln und Maschinen bedienen, sodass die Einzelfertigung von Linsen und Prismen entfiel. Die mit der neuen Turbine eingeführte Elektrifizierung der einzelnen Maschinen verdrängte die bis dahin üblichen Transmissionen. Zudem wurden die Arbeitsbedingungen (Arbeitssicherheit, Reduzierung des Geräuschpegels, mehr Tageslicht) erheblich verbessert. Auch optimierte sich der Fertigungsfluss, indem eine variable Aufstellung der Maschinen möglich wurde.

Die Aufteilung des Produktionsprozesses auch in der Mechanik führte zur Einrichtung von Arbeitsgruppen, später zu Werkstätten, die sich auf bestimmte Arbeitsvorgänge spezialisierten. Diese Kompartimentierung ging Hand in Hand mit der Ausbildung einer ausreichenden Zahl von Feinmechanikern und Facharbeitern. Die Maschinen wurden den immer höheren und spezielleren Vorgaben angepasst, bei Bedarf ab 1903 auch im werkseigenen Maschinenbau hergestellt. 

Verfeinerte Messmethoden und Fertigungskontrollen sichern gleichmäßige Qualität

Um den bei Serienfertigung entstehenden Ausschuss in einer möglichst frühen Phase zu erfassen, bedurfte es guter Messmethoden. Die hierzu erforderlichen Messmittel wurden selbst hergestellt.

Eine effiziente Fertigungskontrolle schließlich sorgte für gleichmäßige Qualität.

Federführend für die Gestaltung der verschiedenen Produkte der Firma waren die Werkmeister der Justierabteilungen. Für die Serienherstellung bediente man sich eines konstruktionsreifen Musters. Manchmal wurden vom Werkmeister auch Handskizzen gefertigt. Bis 1918 kann man von einer Serienfertigung auf handwerklicher Basis sprechen. Ab diesem Zeitpunkt wurde Zug um Zug die Konstruktionsarbeit von der Fertigung getrennt, 1920 übernahm Hermann Heine die Leitung der Konstruktionsabteilung.

Leitz wird bis 1912 zum weltweit größten Mikroskophersteller

So kam es, dass sich die Zahl der gefertigten Mikroskope zwischen den Jahren 1885 und 1912 fast verzehnfachte: waren es 1885 noch 1.250 Instrumente, verließen im Jahr 1912 knapp 12.000 Mikroskope das Werk. Leitz war mit 55.000 verkauften Mikroskopen bereits um 1900 weltweit zum größten Mikroskophersteller geworden.

1907 hatte Ernst Leitz das 100.000. Mikroskop seiner Fertigung dem großen Wissenschaftler und Nobelpreisträger Robert Koch gewidmet. Bereits fünf Jahre später, 1912, verließ Mikroskop Nr. 150.000 das Werk, das Ernst Leitz dem Nobelpreisträger Paul Ehrlich überreichte.

Kummulierte Stückzahlen der Mikroskop-Fertigung 1849 bis 1913

Kummulierte Stückzahlen der Mikroskop-Fertigung 1849 bis 1913

Änderung der Produktpalette ab 1912 in Richtung Militäroptik

Neben vielen anderen Produkten der Firma im Projektions-, Film- und Photobereich gab es ab 1907 auch Ferngläser, der erste Weltkrieg warf seine Schatten voraus.

In kürzester Zeit hatte sich das Unternehmen, mehr und mehr unter der Führung des Sohnes Ernst Leitz II, widerstrebend auf Militäroptik umzustellen. Dem Bedarf des Heeres entsprach die Firma mit der Konstruktion der verschiedensten Fernrohre für Marine, Heer und die beginnende Luftwaffe. Neben 96.800 Ferngläsern baute man Zielfernrohre, Fliegerbeobachtungs-Instrumente, Scherenfernrohre, Sehrohre für Schützengräben, sowie Artillerie-Richtkreise.

Bis 1920 wurden etwa 50 verschiedene Fernglas-Modelle gebaut. Insgesamt sind bis dahin rund 115.000 Exemplare gefertigt worden.

Neue kostensparende Maßnahmen der Fertigung

Das erweiterte Produktspektrum erforderte neue kostensparende Maßnahmen in der Fertigung. Dem Optiker Rudolf Zak, der ab 1889 als Betriebsleiter tätig war, gelang es, den Optikbetrieb entsprechend dem Materialflussprinzip zu gliedern, womit er in der Optik das von Ernst Leitz eingeführte Verrichtungsprinzip vollendete.

Mit August Bauer gelang es nach der Jahrhundertwende, die innerbetriebliche Organisation den neuen Erfordernissen anzupassen. Er ersetzte veraltete Fertigungsmethoden und führte eine neuzeitliche wirtschaftliche Betriebsführung ein.

Kriegsbedingte Schwankungen der Belgschaftszahlen und der Produktionsschwerpunkte

Zählte man bis 1880 noch 40 Beschäftigte, waren es 10 Jahre später schon 200. Bis 1910 stieg die Zahl der Mitarbeiter auf 947. Während des 1. Weltkriegs 1914-1918 waren viele Arbeiter zum Kriegsdienst eingezogen, die fehlenden Stellen in der Fertigung wurden von Frauen ausgefüllt. Die Belegschaft wuchs in dieser Zeit auf etwa 2.000 Mitarbeiter an.

Abrupt beendete bei Kriegsende der Versailler Vertrag die Fertigung von Militäroptik. Die Firma produzierte wieder Mikroskope und Projektoren, Ferngläser nur noch für zivile Zwecke. Mit dem Verlust der Auslandsmärkte war ihre Stellung als Weltmarktführer für Mikroskope verloren gegangen. So arbeiteten 1920 nur noch 1266 Menschen bei Leitz. Auch war der Betriebsfrieden merklich gestört zwischen den Meistern und den aus dem Krieg zurückgekehrten Gesellen.

Vom wirtschaftlichen Niedergang nach dem ersten Weltkrieg sollte sich Deutschland nicht so schnell erholen. Der Krieg hatte alle Reserven aufgebraucht. Was noch vorhanden war, floss in Reparationszahlungen. Universitäten und öffentlichen Instituten fehlte das Geld für den Kauf von wissenschaftlichen Instrumenten.

Der Wiederaufbau des Exports gestaltete sich als langwierig und mühsam. 

In dieser Phase des mühevollen Neubeginns hatte sich 1920 der Lebensweg von Ernst Leitz vollendet. Er sollte den glanzvollen Wiederaufstieg seines Unternehmens unter der Führung seines Sohnes nicht mehr miterleben.